Integrative Medizin

Pluralismus in Forschung und Therapie fördert die Heilkunst und hilft den Menschen in Gesundheit und Krankheit

Dr. Mario Mayrhoffer, Arzt für Allgemeinmedizin, ÖÄK- Diplom Anthroposophische Medizin, ÖÄK-Diplom Palliativmedizin

Medizinischer Fortschritt durch naturwissenschaftliches Paradigma

Der enorme Fortschritt der naturwissenschaftlichen Medizin in den letzten 100 Jahren ist unbestritten. Viele akute Krankheiten, können durch gezielte Maßnahmen wie der Einsatz von Antibiotikatherapien bei bakteriellen Erkrankungen, operativen Eingriffen und akuten medizinischen Notfällen wie ein Herzinfarkt oder Schlaganfall, schnell und sicher geholfen werden. So werden tausende von Menschenleben gerettet und Folgeschäden vermindert oder sogar verhindert. Starb man vor 150 Jahren noch an einem „akuten Blinddarm“, ist die operative Sanierung und die Antibiose lebensrettend und der Patient kann meist nach 1-3 Tagen das Krankenhaus verlassen. Die Entdeckung von Risikofaktoren und deren Vermeidung hat den prophylaktischen Zugang zur Krankheit verändert. Selbst wenn die Umsetzung eines gesunden Lebensstiles sehr oft am „inneren Schweinehund“ scheitert oder Unwissenheit insbesondere bei ärmeren und ungebildeteren Bevölkerungsschichten die Partizipation des Menschen an der Verhinderung von Krankheit scheitern lässt, ist ein sehr großes Wissen über die Funktionsfähigkeit der Organe und Organsysteme und deren Schutz durch Vermeidung von schädigenden Einflüssen vorhanden. Auch manche Impfungen, die sich durch ein gutes Nutzen/Risikoverhältnis auszeichnen, können schwere Erkrankungsverläufe verhindern oder Leben retten.

Der Vater dieses Erfolges liegt in der methodischen Einengung der Wirklichkeit von Welt und Mensch auf empirische sinnesbasieret Forschung und dem Paradigma, Erkenntnis durch Wägen, Zählen und Messen zu erlangen. Das Weltbild hinter diesem Reduktionismus ist partikularistisch, die Welt besteht nur aus Materieteilchen. Vorgestellte Atome, Moleküle oder andere Teilchen sind die Bausteine der Welt. Komplexere Zusammenstellungen von  Eiweißen bestimmen dann das organische Leben und sind die Ursache, dass bei höheren Lebewesen wie dem Menschen, durch ein kompliziertes Zusammenwirken von biochemischen und elektrischen Vorgängen in einer“ Fleischmaschine“ dem Gehirn, emergent so etwas wie Gedanken und Gefühle entstehen und das subjektive Innenleben des Menschen determinieren. Ein ICH, ist daher eine Illusion. Letztendlich nur ein Überlebensprogramm des Gehirnes, so wird von manchen naturalistisch orientierten Neurobiologen argumentiert.

Der ganze Mensch in der Perspektive des trichotomen Paradigmas

Einen gänzlich anderen Zugang zur Wirklichkeit suchen die Vertreter der komplementärmedizinischen Therapierichtungen, die meist außerhalb der akademischen Medizin forschen, lehren und arbeiten. Aus historischen Wurzeln heraus, die weit in die Antike zurückreichen oder modernere, umfassendere Erkenntnisformen von Welt und Mensch, bilden dabei die Grundlage. Ihr Paradigma besteht darin, dass Gesundheit und Krankheit nicht oder nicht nur in der stofflich-biochemisch-physikalischen Körperlichkeit des Menschen (Genetik, Eiweißbausteine wie RNA, DNA, hormonelle-immunologische Regulationskreise,..) zu finden sind, sondern auch in dem was wir in der lebendigen, seelischen und geistigen Organisation finden. Dieser Arbeitshypothese liegt ein trichotomes Weltbild zugrunde, das sich zum Beispiel auf den Menschen bezogen, nach Leib, Seele und Geist gliedert. Diese drei Weltbereiche sind voneinander unabhängige Wirklichkeitsbereiche, die wie die sinnliche Realität erforschbar und erkennbar sind. Diese reichen aber noch „weiter“, als das etwa in einem biopsychosozialen Konzept (zB. Psychoneuroimmunologie und ihren großartigen Erkenntnissen) von Krankheit und Gesundheit formuliert wird.

Den Prinzipien der erweiterten Wissenschaft folgen

Medizin (ärztliche Kunst od. Heilkunde) ist eine praxisorientierte Erfahrungswissenschaft, aufgegliedert in verschiedene Fachgebiete (Humanbiologie, Anatomie, Physiologie,….Psychiatrie),die nach wissenschaftlichen Prinzipien arbeitet und forscht. Objektivierbarkeit, Reproduzierbarkeit, Rationalität, Evidenz und Prospektivität sind dabei ihre methodologischen Säulen. Zentren der Forschung und Lehre sind die Universitäten. Deshalb spricht man auch von akademischer Medizin.

Neben der akademischen Medizin gab es immer schon im Sinne eines Methodenpluralismus eine komplementäre od. alternative Medizin, die sehr stark erfahrungsorientiert arbeitet und forscht und dem ein erweitertes anthropologisches Modell des Menschen zugrunde liegt. Das humanbiologische Modell wird in den Kontext einer ganzheitlichen Betrachtung nach Leib, Seele und Geist als drei eigenständige Entitäten gestellt, die in einem komplexen Zusammenspiel, Disposition, Konstitution Gesundheit und Krankheit(endogen) zur Erscheinung bringen lassen.

Komplementärmedizinische Richtungen müssten konsequenterweise ihre Methodik des Forschens und Behandelns charakterisieren oder definieren. Auch dort muss ein Dreischritt verfolgt werden. Beobachtungsinhalte werden mit rationalem Denken durchdrungen und gesetzmäßige Zusammenhänge erkannt. Für die Komplementärmedizin erweitern sich die Beobachtungsinhalte über das Zähl- und Wägbare, statistisch Verarbeitbare hinaus. Beobachtungsräume in das Lebendige, Seelische und Geistige des Patienten werden geöffnet. In der Medizin spricht man dann auch neben der sinnenfälligen Erkenntnis von z.B. Intuition. Jeder Arzt kennt das sehr gut aus der täglichen Arbeit. Etwas Objektives innerhalb der „subjektiven Erfahrungswelt“ des praktizierenden Arztes erweitert zB. die sinnesgebundene Diagnostik.

An einem Beispiel soll verdeutlicht werden was damit gemeint ist. Blicken wir auf die  Mona Lisa, das  weltberühmtes Ölgemälde von Leonardo da Vinci aus der Hochphase der italienischen Renaissance. Computergestützt wird man heutzutage die Zusammensetzung der Farbpigmente auf dem Bild sehr genau bestimmen können. Mithilfe verschiedenster technischer Verfahren wird dabei eine genaue objektiver Analyse möglich sein. Jedoch der seelische Ausdruck, das was die Frauengestalt als Geheimnis in ihrem Inneren trägt und der ganze Sinnzusammenhang der Komposition (geistig) wird sich einer analytischen Erkenntnis nicht erschließen. Der Erkenntnisblick geht auf das Ganze. So muss der Blick des Arztes der integrativ arbeiten will, idealerweise immer auf das Ganze des Patienten gerichtet sein.

Ganzheitlich komplementärmedizinische Therapierichtungen sind aber streng abzugrenzen von den mystischen, esoterisch realitätsfremden Heilsversprechungen. Letztere sind nicht für Forschung, rationales Erkennen und Lern- und Lehrbarkeit zugänglich.

Das Beste aus beiden Welten

Integrative Medizin vereint nun die Vorteile beider Welten. Die abgestimmte und sinnvolle Nutzung von konventionellen und anerkannten komplementär- medizinischen  Verfahren in Diagnostik und Therapie  von akuten und chronischen Erkrankungen, palliativen Settings, sowie in der Primär-, Sekundär- und Tertiärprophylaxe.

Besonders bei schweren, chronischen oder nicht heilbaren Erkrankungen bewähren sich die integrativen Ansätze. Damit wird nicht nur der Zucker beim Diabetes, der Blutdruck bei der Hypertonie, die Schmerzen beim Rheuma „eingestellt“. Zusätzlich werden Wege durch die Krankheit oder zur Heilung gesucht, vor allem Entwicklungswege für den Patienten eröffnet. So dass bei schwerwiegenden Erkrankungen nicht nur eine“ Restitutio ad Integrum“ erfolgt. Die  Herstellung des vorangehenden Gesundheitszustandes. Sondern eine Erhöhung der Gesundheit und Bewusstheit des Patienten. Da kann man schon einmal eine Patientin, die durch eine schwere Krebserkrankung durchgehen musste, sagen hören: „Wissen sie Herr Doktor, ich möchte meine Erkrankung nicht missen! Das klingt vielleicht eigenartig, aber ich habe durch den Krebs so viel für mein Leben gelernt, viele Einstellungen und Perspektiven habe ich verändert. Eine ganz andere Form der Gesundheit und Wertestruktur bestimmen nun mein Leben. Ich habe meine Lebensmelodie wieder gefunden!“

Integrative Onkologie

Am Beispiel der Integrativen Onkologie und der Misteltherapie kann man die beiden Zugangsweisen zur Krankheit gut erkennen. Beide Richtungen, naturwissenschaftliche Medizin und komplementäre Medizin, können mehr bewirken wenn sie an einem gemeinsamen Ziel, mit pluralistischen Forschungs- und Therapiewegen arbeiten wollen.

Die eine Richtung arbeitet pathogenetisch-zytoreduktiv, krankheitszentriert. D.h. möglichst schonend soll die Tumormasse verkleinert oder gänzlich entfernt werden. Das wird durch fortschrittliche Operationstechniken, Chemotherapien und Bestrahlungen erreicht. Seit einigen Jahren auch durch zielgerichtete Therapien-personalisierte Medizin- wo auf Grundlage von molekulargenetischen Untersuchungen, zielgerichtet Signalweg der Tumorzelle verändert werden können oder gezielte Modulationen in den abwehrenden Immunzellen erreicht wird. Bei einzelnen Tumorentitäten werden dabei schon eindrucksvolle Ergebnisse erzielt.

Die komplementäre Therapierrichtung, arbeitet mehr salutogenetisch-gesundheitsfördernd und patientenzentriert. Durch verschiedenste Maßnahmen – um einige zu nennen – mit mineralischen, pflanzlichen, tierischen Heilmitteln, äußere Anwendungen (Wickel, Massagen, Bäder), Bewegungstherapien wie Tai Chi und Eurythmie, Kunsttherapien wie Malen und Plastizieren, Gesprächstherapien und Biographiearbeit. Meditationen, Achtsamkeitsübungen und spirituelle Arbeit dringen tief in den geistig-seelischen Ich- Anteil des Patienten vor.  Lebenskräfte stärken, Selbstheilungskräfte anregen, psychosoziale Kompetenzen aufbauen, Autonomie und Selbstbestimmung fördern, spirituelle Erlebnisräume öffnen sind Wirkungen die den ganzen Menschen erfassen und ihn auch partizipativ an dem Heilungsvorgang teilhaben lassen.

Besonders erfolgreich sind beide Therapierichtungen, wenn es gelingt die Erkrankung sehr früh in ihren Anfangsstadien zu diagnostizieren und zu behandeln. Gerade Frühdiagnostik und gezielte frühe Therapien sind sehr erfolgversprechend und werden in Zukunft eine immer größere Rolle spielen.

Real world data (RWD) in der Onkologie zeigt uns schon heute ein viel besseres Outcome am Pateinten, wenn Integrative Ansätze verantwortungsvoll zum Einsatz gelangen.

Aus der Versorgungsforschung wird immer klarer erkennbar, dass eine integrative Medizin auch ökonomische Vorteile hat. Es ist doch ethisch bedeutsam, dass vielen Menschen aus „unserer Menschenfamilie“ wenn sie sie in Not sind und die ökonomischen Ressourcen begrenzt sind, auch Zugang zu leistbaren Therapien haben. Das hat auch die WHO erkannt und schützt durch ein Programm die traditionellen und komplementären Heilweisen und setzt Standards für Forschung und Ausbildung.

„As biomedicine and T&CM(traditional und coplementary Medicin) seem to have different strengths and weaknesses, integration of both approaches may be beneficial. Indeed, WHO has repeatedly called upon member states to work on the integration of T&CM into healthcare systems. Integrative medicine (IM) is an approach that offers a paradigm for doing so. It combines the best of both worlds (biomedicine and T&CM), based on evidence for efficacy and safety, adopting a holistic personalized approach, focused on health.“

A review of the WHO strategy on traditional, complementary, and integrative medicine from the perspective of academic consortia for integrative medicine and health etal. Rogier Hoenders et al.

Die Welt des Gewordenen und des Werdenden im Menschen

Pluralismus ist in jeder Disziplin wichtig. Neus entsteht meist erst im respektvollen Dialog unterschiedlicher Sichtweisen.  Das ist besonders für die medizinische Wissenschaft wichtig. Es geht ja um nichts Geringeres, als um die Gesundheit und die Entwicklung des Menschen. Eine medizinische Wissenschaft die nur auf das Gewordene blickt und die Körpermaterie als das einzig real Erkennbares ansieht, droht in eine Sackgasse zu geraten, erfasst nicht die ganze Realität des Menschen. Eine Wissenschaft die auch auf die werdenden Kräfte schauen kann die hinter dem Gewordenen liegen, ist eine notwendige Ergänzung zur Etablierung einer menschengemäßen Heilkunst. Eine integrative Medizin hat dazu die Möglichkeit.