Der Diagnoseprozess: Vom Befund zur Begegnung – Medizin zwischen Körper, Seele und Individualität
Wenn der Arzt oder Therapeut den wahrnehmbaren Menschen in Gesundheit oder Krankheit begreifen will und eine Diagnose stellt, als Grundlage für eine therapeutische Intervention, so hat er mehr oder weniger bewusst, vier Eben des Erkennens zu beachten.
Mit dem Eintauchen in die Welt der Befunde des Patienten, trägt der Arzt die Frage in sich:
Was hast Du? – wir blicken auf die Welt der Stoffe und ihre physikalisch-chemischen Funktionen, die Anatomie, auf den Stoffleib.
Es ist die Welt des Gewordenen, die Welt der physiologischen Gestaltungen oder pathologischen Veränderungen in Raum (Anatomie)und auch in der Zeit (Physiologie) des Körpers. Eine Krankheit ist vom latenten Stadium zum nächsten, das der konkreten Krankheitsmanifestation übergegangen. Eine vielleicht gestörte Zuckerregulation, ist zum manifesten Diabetes mellitus geworden. Das ist nun konkret messbar an bestimmten Blutwerten. Befunde sind in der Raumgestalt (z.B. Veränderungen der Bauchspeicheldrüse durch Entzündung) erfassbar. Insbesondere die Bildgebenden Verfahren (Röntgen, CT, MRT, PET-CT, Neuroimaging) werden immer exakter und differenzierter. An dieser Stelle wird auch die AI (artificial intelligence) noch weitere Fortschritte bringen, denn sie ist an Mustererkennungen in bestimmten Bereichen zB. der bildgebenden Verfahren, deutlich besser als der Mensch.
Aber auch Veränderungen im rhythmischen-zeitlichen Menschen (EEG, EKG, HRV ..) wurden messbar. Unglaubliche Fortschritte hat da die Wissenschaft und vor allem die Technik gemacht! Bis in das Genom ist man vorgedrungen und Tumorerkrankungen werden heute molekulargenetisch klassifiziert, egal an welcher Lokalisation sie auftreten.
Die naturwissenschaftlich basierte Medizin ist in den letzten hundert Jahren enorm gewachsen, bietet dem Arzt sehr gute Grundlagen für seine therapeutischen Überlegungen. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass der Mensch aber noch mehr ist als sein Befund, der etwas Gewordenes abbildet.
Mit der zweiten Frage: Wie geht es Dir? – blicken wir auf die Welt des Lebens, des Aufbaus, der Gestaltbildung und – Gestaltveränderung im Wachstum, der Regeneration, der Erhaltung, der Zusammenklang aller rhythmischen Vorgänge
Begegnen wir einem Menschen, so fragen wir meist: Wie geht’s und meinen damit wie er sich befindet. Wir selbst haben ein sicheres Gefühl für unser Befindlichkeit. Und diese spiegelt meinen Vitalitätszustand. Bin ich gut ausgeschlafen, so fühle ich mich erfrischt. Fühle ich mich grippig, so fühle ich mich matt. Das sind alles Wahrnehmungen meines Lebenszustandes, das ist mehr als das Funktionieren der Stoffe. Das ist die Welt der Gestaltbildung, des Wachstums mit den Gestaltmetamorphosen, die Regeneration und Wiederherstellung nach einem Trauma zB. Die Wunde schließt sich wieder. Es ist die Welt der Selbstheilungskräfte. Eine Welt die viel mit Qualität zu tun hat, mehr als mit Quantität. Deshalb ist sie verborgen und kaum zähl und messbar. Aber sie ist real erlebbar und wesentlich für unsere Befindlichkeit. Der krebserkrankte Mensch leidet oft sehr unter dem krebsbedingten Müdigkeitssyndrom, eine grundlegende Schwächung der Lebenssphäre des Organismus. Bedingt durch die Therapien oder den Tumor selbst. Der Arzt hat ein sicheres Empfinden für diese Ebene des menschlichen Leibes. Er sieht sofort ob es einem Patienten gut oder schlecht geht. Es ist wichtig, dass wir uns dieser Lebensebene bewusst sind. Sie ist aber bereits “hinter dem Körper“. Nicht sichtbar aber erlebbar und an den Wirkungen erkennbar.
Mit der dritten Frage: Wie fühlst du Dich? – blicken wir auf der Welt der Stimmungen und Emotionen, der Gefühle und ihr Ausdruck im Leib+
Wenn jemand traurig ist erkennt man das sofort an der Körperhaltung und Körperspannung. Trauer macht schlaff, schwer, in sich zusammengesunken und nach Innen gewendet. Freude macht eine aufrechte, leichte und strahlende Haltung. Das seelische Innenleben wirkt offen, weltzugewandt und mitteilsam. Besonders die Spannung der glatten Muskulatur und er willkürlichen Muskulatur reagieren stark auf Emotionen. Die Ver-Spannungen am Nacken oder an der Lendenwirbelsäule sind oft ein Spiegel für Stress und Überforderung. Auch die Spannung am Blutgefäßsystem gibt mir Auskunft über den Seelischen Zustand: Anspannung und chronischer Stress macht eine Blutdruckerhöhung. Eine innere Entspannung, das Loslassen bewirkt eine Blutdrucksenkung. Das sind nur wenige Beispiele, wie der Arzt am Körper der seelischen Stimmung nachlauschen kann und aufmerksam wird wie die Seele des Menschen mit dem Körper interagiert. Wie sie ihre Melodie ausdrücken kann. Stresshormone, Hormone der Körperdrüsen (Schilddrüse, Geschlechtsdrüsen,..) haben da ihre Rolle zu spielen und sind körperliche Instrumente der seelischen Wirksamkeit. Mit den Hormonen und dem Zustand des Nervensystems hängt das Immunsystem zusammen. Jeder hat schon erfahren, wie Stress, Ängste oder Schock die Immunität lähmt. Wieder beeinflussen die „Grundstimmungen des Seelischen“ die Körperfunktionen. Für die diese Interaktionen bildet der Arzt ein feines Wahrnehmungsorgan aus. Auch diese Wahrnehmungsebene bestimmt den Diagnoseprozess mit.




